Für Reinhold Messner bedeutet Abenteuer, bis an die Grenze zu gehen, nach Hans Kammerlander beginnt Abenteuer sogar erst da, wo die Situation außer Kontrolle gerät. Abenteuer ist auf jeden Fall die wichtigste Zutat für ein spannendes Bergbuch und der Grund dafür, warum man nicht mehr aufhören kann, sie zu lesen.

Hier stelle ich meine Lieblingsbergbücher vor. Die Reihenfolge der vorgestellten Titel ist alphabetisch nach Autorennamen, bedeutet also keine Wertung.


 Hermann Buhl. Achttausend drüber und drunter

Hermann Buhl ist eine Bergsteigerlegende aus der Generation lange vor dem Massenandrang auf die Himalayagipfel. Alpingeschichte hat er als Erstbesteiger des Nanga Parbat und des Broad Peak geschrieben. Berühmt geworden ist er auch dafür, dass er am Nanga Parbat, den er im Alleingang erstbestiegen hat, das Stehbiwak auf einem schmalen Felsband überlebte, für Reinhold Messner eine der beeindruckendsten Leistungen in der Geschichte des Alpinismus.

Die Erstausgabe von Achttausend drüber und drunter erschien 1954 und wurde zum internationalen Bestseller. Buhls Originalmanuskript ist verschollen. Für die Erstausgabe redigiert wurde es von dem österreichischen Bergsteiger und Journalisten Kurt Maix, der ein Freund Buhls war. Selbstzeugnisse von Maix lassen darauf schließen, dass er bei der redaktionellen Bearbeitung von Buhls Manuskript sehr frei und wohl teilweise auch verfälschend vorgegangen ist. Maix war Nationalsozialist und veröffentlichte zwischen 1933 und 1945 Bücher mit Titeln wie “Der Mensch am Berg” und “Bergler, Bauern, Kameraden“, im Geist des Nationalsozialismus verfasste, und diese Geisteshaltung merkt man Achttausend drüber und drunter leider etwas an. Dazu gehört die zum Heroisieren neigende Sprache, aber auch die Darstellung bzw. das Weglassen von Ereignissen. Ein Beispiel: Hermann Buhl wird 1943 im Alter von 18 Jahren zum Wehrdienst eingezogen und Gebirgsjäger in Italien. Nach Kriegsende verbringt er zwei Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Im Buch findet man zu der Zeit in Krieg und Gefangenschaft kaum mehr als einen kurzen Satz.

Der Krieg, die Gefangenschaft, eine zweijährige Pause, vermochten nicht, meinen Drang in die Berge zu beeinträchtigen.

Eine zweijähre Pause, mehr nicht? Nahtlos geht es weiter mit der Besteigung der Lalidererwand im Karwendel. Mich hat das schon gewundert, dass zwei lange Jahre Gefangenschaft bei einem so jungen Menschen anscheinend keine Spuren hinterlassen haben. Vor diesem Hintergrund ist es ein Glücksgriff des Verlags, in der aktuellen Ausgabe von 2021 erstmals die Originaltagebücher Buhls von Nanga Parbat, Broad Peak und Chogolisa zu ergänzen, also Hermann Buhl im O-Ton. Kommentiert werden die Tagebücher von Kurt Diemberger, einem Weggefährten Hermann Buhls.

Hermann Buhl stammt aus Innsbruck, wo er 1907 geboren wurde. Er ist eher klein und schmächtig, dafür sagt man ihm schon als Kind großes Klettertalent und einen eisernen Willen nach. Als Teenager klettert er auf die Gipfel der Nordkette und des zentralen Karwendels. Seine besondere Leidenschaft sind Winterbegehungen, die für Buhl ein perfektes Training für die anstehenden Ziele in den Westalpen sind. Hermann Buhl klettert schwierigste Routen in den Ost- und in den Westalpen, darunter viele Erstbegehungen wie zum Beispiel die Gesamtüberschreitung der Aiguilles von Chamonix im Jahr 1950.

1953 wird Hermann Buhl von Karl Herrligkoffer zu einer Nanga-Parbat-Expedition ins Karakorum eingeladen. Herrligkoffer arbeitet als praktischer Arzt in München und ist der Stiefbruder des 1934 am Nanga Parbat tödlich verunglückten Willy Merkl, zu dessen Gedächtnis Herrligkoffer die Expedition unternimmt. Bis in die späten 1980er Jahre organisiert er verschiedene Expeditionen in den Himalaya und in den Karakorum, darunter die berüchtigte Nanga-Parbat-Expedition von 1970 mit den Messner-Brüdern, bei der Günther Messner ums Leben kam. Herrligkoffers Art, Expeditionen zu leiten, ist umstritten, er gilt als autoritär. Unbestritten ist jedoch sein Geschickt, Geldgeber und Sponsoren für seine großen Expeditionen zu gewinnen.

Hermann Buhl gehört bei der Nanga-Parbat-Expedition von 1953 zur Gipfelmannschaft, die es bis ins Lager vier auf 6.900 Metern schafft. Das Wetter ist anhaltend schlecht, deshalb sollen er und seine Begleiter eigentlich abbrechen und ins Basislager zurückkehren. Doch der wiederholt per Funk übermittelte “Rückzugsbefehl” aus dem Hauptlager wird von den Dreien wegen einer unverhofften Schönwetterperiode verweigert. Am 3. Juli 1953 erreicht Hermann Buhl allein und ohne zusätzlichen Sauerstoff den Gipfel. Damit gelingt ihm die einzige Erstbesteigung eines Achttausenders im Alleingang. Beim Abstieg wird es schon dunkel, als sich der Riemen eines Steigeisens löst. Ohne Seil und mit nur einem Steigeisen tastet sich Buhl durch schwieriges Geländer weiter bergab, bis die Nacht kein Weiterkommen mehr zulässt. Dass Buhl die extremen Strapazen und dann auch noch das unfreiwillige Stehbiwak auf einem schmalen Felsband nicht weit unterhalb des Gipfels überlebt, hat er wahrscheinlich nicht nur seinem technischen Können und seinem starken Überlebenswillen, sondern auch dem Umstand zu verdanken, dass er Padutin (ein kreislaufförderndes Mittel) und Pervitin (Metamphetamin) im Rucksack hatte.

Endlich spüre ich wieder etwas Festes unter mir - und schon fühle ich mich gerettet. Der Stand bietet beiden Füßen Platz. Zum Sitzen ist er allerdings zu klein, so muß ich eben stehend abwarten. […] Zwar fehlt mir jetzt der Biwaksack zum richtigen Kälteschutz, und auch ein Seil, um mich vor dem Absturz zu sichern, aber trotzdem erweckt der Gedanke an die bevorstehende Nacht in mir kein Grauen. […] Da fällt mir das Padutin ein! Ein kreislaufförderndes Mittel, ein Schutz gegen Erfrierungen. Fünf dieser kleinen Pillen würge ich hinunter, sie bleiben mir fast im Halse stecken. In der linken Hand halte ich die beiden Skistöcke. Hoffentlich entfallen sie mir nicht, ich brauche sie noch! Die Rechte klammert sich an einen Griff. Ich schaue nochmals auf die Uhr - neun Uhr abends. Hoffentlich hält das Wetter …

Das Wetter hält, aber Buhl braucht einen ganzen weiteren Tag, bis er am nächsten Abend, nach mehr als 40 Stunden, im Hochlager ankommt und mit Tee und erster medizinischer Hilfe versorgt wird. Wegen schwerer Erfrierungen an den Füßen müssen später die Zehen seines rechten Fußes amputiert werden.

Drei Jahre später bricht Hermann Buhl erneut ins Karakorum auf, diesmal mit einer österreichischen Kleinexpedition zum noch unbestiegenen Broad Peak (8.051 m), einem Nachbarberg des K2. Hermann Buhl gilt als Vater des Alpinstils, der sich als Gegenteil des Belagerungsalpinismus der großen Expeditionen versteht. Im Alpinstil wird der Berg ohne zusätzlichen Sauerstoff, ohne vorher eingerichtete Hochlager, ohne Fixseile und ohne Hochträger bestiegen. Die Ausrüstung inkl. Zelt wird im Rucksack getragen. Jahrzehnte vor Messner und Kammerlander gelingt den drei Österreichern Wintersteller, Schmuck, Diemberger und Buhl am 9. Juni 1957 im Alpinstil die Erstbesteigung des Broad Peak. Zusammen mit Kurt Diemberger ist Hermann Buhl der einzige Mensch, der zwei Achttausender erstbestiegen hat.

Nur zwei Wochen nach der geglückten Erstbesteigung des Broad Peak machen sich Hermann Buhl und Kurt Diemberger auf, um als Erste den Gipfel der nicht weit entfernten Chogolisa (7.668 m) zu besteigen. Kurz unterhalb des Gipfels kommen sie in einen Schneesturm und müssen umkehren. In einem Wächtenabbruch wird Hermann Buhl in die Tiefe gerissen. Kurt Diemberger überlebt nur deshalb, weil die beiden nicht am Seil gegangen sind. Das Buch schließt mit dem Bericht Diembergergs, der nach seiner Rückkehr ins Basislager zu Protokoll genommen wurde.

Fazit

Die akribischen Beschreibungen der unzähligen Klettertouren Hermann Buhls in jungen Jahren in den Ostalpen habe ich manchmal überblättert. Die zweite Hälfte des Buchs, in denen Buhl zu den hohen Gipfeln der Westalpen und schließlich in den Himalaya aufbricht, ist höchst spannende Alpingeschichte. Man versteht, warum Hermann Buhl viele Generationen von Bergsteigern nach ihm beeinflusst und geprägt hat.

Sehr interessant sind die stichpunktartig notierten Bergtagebücher Buhls von Nanga Parbat, Broad Peak und Chogolisa am Ende des Buchs. Hier bekommt man einen ungeschönten Einblick in die Höhen und Tiefen des Extrembergsteigens in Zeiten, als die Handschuhe der Kletterer noch Fäustlinge aus Wolle waren, und auch in die manchmal erbitterten Auseinandersetzungen, zu denen es unter den Teilnehmern solcher Expeditionen kommen kann.

Im Bildtafelteil in der Buchmitte sind farbige und Schwarzweißfotos von den verschiedenen Bergunternehmungen und von Weggefährten Hermann Buhls abgedruckt. Auch das berühmte Gipfelfoto von Buhls Eispickel mit dem Tiroler Wimpel auf dem Gipfel des Nanga Parbat fehlt nicht.

Titel: Achttausender drunter und drüber

  • Autor: Hermann Buhl

  • Verlag: Piper

  • Erscheinungsjahr: 8. Auflage 2021

  • Umfang: 368 Seiten, Broschur

  • Preis: 14 Euro


 Hans Kammerlander. Bergsüchtig

Hans Kammerlander kann nicht nur extrem gut bergsteigen, sondern auch sehr spannend erzählen. Zusammen mit dem Journalisten und Bergsteiger Walther Lücker hat er mehrere Bücher herausgebracht. Bergsüchtig ist das bekannteste Werk.

Viele Bücher berühmter Alpinisten haben ein ähnliches Drehbuch: Kindheit und Jugend in einem Bergdorf, Klettern und Hochtouren in den Ostalpen, dann in den Dolomiten und in den Westalpen und schließlich im Himalaya. Das ist auch in Bergsüchtig so. Hans Kammerlander, Jahrgang 1956, wächst in einfachsten Verhältnissen in einem Südtiroler Bergdorf auf. Im Alter von acht Jahren steht er auf seinem ersten Gipfel, dem Großen Moosstock (3.059 m), seinem Hausberg. Mit seinem ersten, auf dem Bau verdienten Geld kauft er sich ein altes Motorrad, mit dem er unzählige Bergfahrten in die Dolomiten unternimmt. Mit 21 Jahren legt er die Prüfung zum Bergführer ab. Ende der 1970er Jahre lernt er den zwölf Jahre älteren Reinhold Messner kennen, der ihn für seine Alpinschule im Vilnößtal rekrutiert.

1982 lädt Messner Kammerlander zu seiner Cho-Oyu-Expedition in den Himalaya ein. Aus Messner und Kammerlander wird eines der außergewöhnlichsten Extrembergsteigerteams in der Geschichte des Alpinismus. In den Jahren zwischen 1982 und 1986 besteigen Messner und Kammerlander gemeinsam sieben Achttausender: Cho Oyu, Hidden Peak, Gasherbrum II, Annapurna, Dhaulagiri, Makalu und Lhotse. Mit dem Lhotse hatte Messner den 14. Achttausender auf seiner Liste abgehakt. Auf dem Gipfel des Lhotse trennen sich die Wege von Messner und Kammerlander. Kammerlander ist ein ausgezeichneter Skifahrer und findet bald seine eigene Nische im Höhenbergsteigen: Mit den Skiern von den höchsten Bergen abfahren. Das glückt ihm erstmals 1990 am Nanga Parbat.

Das Buch ist durchgehend sehr spannend zu lesen. Die Lebensgeschichte, die Kammerlander erzählt, hat zwei herausragende Höhepunkte, die katastrophale Expedition zum Manaslu 1991 und die Solobesteigung des Mount Everest mit anschließender Skiabfahrt vom Gipfel 1996.

1991 organisiert er mit jungen Südtiroler Bergsteigern eine Expedition zum Manaslu (8.163 m), bei der seine Bergsteigerkollegen und Freunde Carlo Großrubatscher und Friedl Mutschlechner ums Leben kommen. Kammerlander schildert den Ablauf der Geschehnisse offen, schonungslos und selbstkritisch. Friedl Mutschlechner hatte sich eigentlich schon vom Höhenbergsteigen zurückgezogen, aber dem Drängen seines Freundes, mit auf die Expedition zu kommen, schließlich nachgegeben. Carlo Großrubatscher bricht sich beim Sturz von einem Sérac das Genick. Am selben Tag wird Friedl Mutschlechner beim Abstieg in einem heftigen Gewittersturm tödlich vom Blitz getroffen. Besonders an die Nieren gingen mir beim Lesen dieser tragischen Geschichte die Fotos, die Kammerlander in der Sturmnacht von Mutschlechner kurz vor dessen Tod und danach von sich selbst im rettenden Zelt gemacht hat. Sie sagen viel darüber aus, wie weit Extrembergsteiger bereit sind zu gehen, und dass der Tod tatsächlich ihr ständiger Begleiter ist.

Nach einer erfolglosen Expedition zum Everest setzt Kammerlander schließlich 1996 seinen lang gehegten Plan um: Von Tibet aus über die Nordwand auf den Gipfel des Everest und mit den Skiern abfahren. Und zwar nonstop ohne Hochlager und praktisch ohne Ausrüstung, außer einer Thermoskanne mit Tee, ein paar Steigeisen und einem winzigen Funkgerät, die Ski mit einem Karabiner am Klettergurt befestigt. Die Kapitel über den nächtlichen Aufstieg auf den Everest und die Skiabfahrt sind packend geschrieben. Kammerlander entführt einen in eine völlig lebensfremde Welt voller Einsamkeit, in die man ihn staunend, gruselnd und mitfiebernd begleitet.

Eine Stunde lang rastete ich im Zelt [des Kamerateams auf 7.000 m]. Ich trank erneut viel Tee, füllte meine Flasche auf, aß ein Stück Schokolade und ging hinaus in die Dunkelheit. Ich war noch nicht weit vom Zelt entfernt, da packte mich bereits die Einsamkeit. Um mich herum war es dunkel wie in einem Sack, und ich hätte alles für eine helle Vollmondnacht gegeben. Die wenigen Sterne konnten die Hänge des Everest nicht erhellen. Vor mir bohrte sich der Schein meiner Stirnlampe in die Dunkelheit. Sie wurde von zwei sehr leichten, aber leistungsstarken Lithium-Batterien gespeist, und doch reichte die Leuchtkraft nicht viel weiter als sechs, acht Meter.

Am Vormittag erreicht er nach fast 17 Stunden Aufstieg den Gipfel. Das mit Selbstauslöser geschossene Gipfelfoto, auf dem er seine Ski in einen Himmel streckt, der schwarzblau wie das Weltall ist, kennt wahrscheinlich jeder, der sich für Höhenbergsteigen interessiert. Was mir aber beim Lesen wirklich den Atem hat stocken lassen, ist das Foto der talwärts nach Tibet ausgerichteten Skispitzen, im Moment bevor Kammerlander den ersten Schwung bzw. Sprung in die Tiefe macht. Die folgende Skiabfahrt ist aberwitzig und unglaublich, und am unglaublichsten ist, dass Kammerlander sie überlebt hat. Einige hundert Höhenmeter unter dem Gipfel endet die Fahrt zunächst an einer steilen Felsplatte, über die sich ein altes Fixseil spannt.

Ich schnallte die Ski ab, hängte sie mit dem Karabiner an den Klettergurt, packte das Plastikseil und begann die vereiste Platte zu queren. Ich kam nicht einmal vier Meter weit, dann rutschte ich mit dem rechten Fuß ab. Während ich seitlich wegkippte, belastete mein Gewicht ruckartig das Seil. Bruchteile von Sekunden lähmte mich die Angst, in den gähnenden Abgrund unter mir zu stürzen. Gleichzeitig brach am anderen Ende des Quergangs der als Verankerung für das Fixseil dienende Felshaken, ich verlor endgültig den Halt, fiel und pendelte zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Ich verrate nur so viel: Es kommt noch viel schlimmer. Aber Kammerlander übersteht die Abfahrt und kommt nach sieben Stunden - überwiegend auf Skiern - im Basislager an.

Fazit

Bergsüchtig ist die unglaublich spannend zu lesende Biografie einer Bergsteigerlegende. Hans Kammerlander vollbringt Wunder in der Kunst des Überlebens auf mehr als 2.000 oft extremen Hochtouren und überlebt dabei groteske Steinschläge, Lawinenabgänge und Schneestürme.

Das Buch überzeugt nicht nur durch die geschilederten Abenteuer, sondern auch durch die durchaus (selbst-)kritischen Betrachtungen des Autors über den Sinn und Nutzen des Extrembergsteigens, über den unwiderstehlichen Drang, “in lotrechten Wänden zu klettern oder in eisiger Kälte auf Achttausender zu steigen” oder über den Massenalpinismus im Himalaya. Wie nebenbei bekommt man außerdem eine große Portion Hintergrundwissen zu den bereisten Ländern dazu, vor allem zu Nepal, Pakistan und Tibet, über das alte Königreich Mustang und die Kultur der Sherpas. Eine Bereicherung sind die vielen farbigen und schwarz-weißen Fotos. Sie sind nicht wie sonst häufig als Tableau in der Buchmitte platziert, zu dem man immer wieder blättern müsste, sondern in der Reihenfolge der Ereignisse, sodass man beim Lesen Text und Fotos immer beisammen hat.

  • Titel: Bergsüchtig

  • Autor: Hans Kammerlander

  • Verlag: Malik

  • Erscheinungsjahr: 6. Auflage 2020 (1. Auflage 1999)

  • Umfang: 352 Seiten, Klappenbroschur

  • Preis: 18 Euro


 Jon Krakauer. In eisige Höhen

In eisige Höhen ist ein Weltbestseller des amerikanischen Journalisten und Bergsteigers John Krakauer. Es ist eines der spannendsten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe. Beim Umblättern habe ich oft den Atem angehalten. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen. Es beschreibt das Drama, das sich im Mai 1996 am Mount Everest abspielte. Mehrere Expeditionen drängeln sich bei der Gipfelbesteigung in der Todeszone des Everest. In einem heftigen Schneesturm kommen neun Menschen ums Leben.

Im Original heißt das Buch Into Thin Air. Es ist eigentlich nicht nachvollziehbar, warum treffende englische Titel auf Biegen und Brechen ins Deutsche übersetzt werden müssen. Der englische Titel bringt es nämlich genau auf den Punkt: Wer sich in die extrem dünne Luft der Achttausendergipfel begibt, betritt die Todeszone, wo wegen des geringen Luftdrucks die Sauerstoffsättigung im Blut auf 50 Prozent sinkt. Die dünne Luft ist der Grund dafür, dass sich der Körper nicht mehr erholen kann, dass jeder Schritt unendlich mühsam ist, dass die Urteilskraft eintrübt und falsche Entscheidungen getroffen werden. Die meisten Alpinisten könnten ohne künstlichen Sauerstoff in diesen Höhen gar nicht überleben. Und auch der künstliche Sauerstoff stellt keine Normalbedingungen her, sondern federt nur die schlimmsten Folgen des Sauerstoffmangels (Erschöpfung, Höhenkrankheit, geistige Verwirrung, Schutz gegen lähmende Kälte) ab.

Krakauer soll im Auftrag des Outsidemagazins über die Folgen der ausufernden Kommerzialisierung des Alpinismus am Everest schreiben. Er ist einer von acht zahlenden Kunden der Expedition des neuseeländischen Bergführers Rob Hall. Vier der fünf Teamgefährten, die mit Krakauer am 10. Mai 1996 auf dem Gipfel des Everest stehen, sterben beim Abstieg in einem verheerenden Schneesturm. Zurück in den USA liefert Krakauer seinen Artikel bei Outside ab, aber die tragischen Ereignisse lassen ihn nicht in Ruhe. Der Outside-Artikel wird nach Krakauers Meinung der Tragödie nicht gerecht. Krakauer beginnt zu recherchieren, führt Interviews mit den wichtigsten Überlebenden und bringt 1997 Into Thin Air heraus, nur ein Jahr nach dem Unglück.

In der Tradition des investigativen Journalismus dokumentiert Krakauer minutiös den Ablauf der Ereignisse, dazu gehört auch, dass er zu Beginn alle Personen auflistet, die in das Drama verwickelt sind. Die Hauptpersonen wie zum Beispiel die Bergführer Rob Hall und Scott Fisher oder einzelne Bergsteiger und Sherpas, mit denen sich Krakauer anfreundet, erhalten im Buch einen biografischen Hintergrund. Man erfährt, welche Ereignisse in ihrem Leben dazu geführt haben, dass sie im Mai 1996 den Gipfel des Everest besteigen wollten. Dadurch werden sie beim Lesen zu guten Bekannten. Die biografische Zeichnung der Personen ist natürlich nicht hundertprozentig objektiv, sondern von Krakauer kunstvoll in die Dramaturgie eingeflochten. Aber gerade deshalb ist das Buch so immens spannend.

Auch die verschiedenen Expeditionsteams, die zur gleichen Zeit wie Krakauers Gruppe auf den Gipfel des Everest wollen, werden charakterisiert. Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Zu viele Bergsteiger wollen zur gleichen Zeit auf den Gipfel. Viele von ihnen sind unverfahren und technisch nicht gut genut für diese Höhen. Diese Defizite werden durch die Kommerzialität der Expeditionen kaschiert: Wer genug bezahlt, ist dabei. 65.000 Dollar kostete beispielsweise ein Platz im Expeditionsteam von Rob Hall, ohne Flug und Ausrüstung.

Mit Angaben zu seiner Person beschränkt sich Krakauer auf das Nötigste. In einem Absatz erwähnt er, dass er schon diesen und jenen prominenten Berg erstiegen (darunter der Cerro Torre) und wohl auch Erstbegehungen gemacht habe. Recherchiert man den Bergsteiger Krakauer, erfährt man, dass er ein exzellenter und erfahrener Bergsteiger und versiert in Alpingeschichte ist. Immer wieder macht Krakauer Streifzüge in die Geschichte des Alpinismus, zum Beispiel in die 1970er Jahre zu Reinhold Messner und seiner Art, Achttausender ganz ohne künstlichen Sauerstoff zu besteigen, oder noch weiter zurück zur ersten britischen Everest-Expedition von Goerge Mallory, der 1924 am Everest verschollen ist.

Krakauer beschreibt die unmenschliche Quälerei am Everest in einer völlig lebensfeindlichen Umgebung, ohne irgendetwas zu beschönigen. Man sollte also meinen, dass das Buch Leser*innen von diesem Berg fernhält. Wenn man sich die langen Staus von Bergsteigern in jedem Frühling am Everest ansieht, ist klar, dass eher das Gegenteil der Fall ist. “Das prickelnde Gefühl, das Geheimnis des Todes zu streifen, einen verstohlenen Blick über die verbotene Grenze zu werfen”, macht wahrscheinlich einen großen Teil der Faszination des Höhenbergsteigens und der Bücher darüber aus.

Am 9. Mai erreicht das Team von Krakauer Camp vier auf dem Südsattel in 8.000 Metern Höhe. Von Kälte und orkanartigem Wind geplagt, lagern in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai mehr als 50 Menschen auf dem Südsattel in der Todeszone.

Alles in allem brachen um Mitternacht dreiunddreißig Bergsteiger Richtung Gipfel auf. Obwohl wir den Sattel als Mitglieder dreier verschiedener Expeditionen verließen, hatten unsere Schicksalsfäden bereits begonnen, sich miteinander zu verweben - und mit jedem weiteren Meter, den wir nach oben stiegen, zurrten sie sich fester zusammen.

Kleinere Vorfälle laufen unbemerkt, aber stetig zu einer kritischen Masse auf. Die vereinbarte Umkehrzeit um 14 Uhr - wer bis dahin den Gipfel nicht erreicht hat, muss umkehren, auch wenn nur noch wenige Höhenmeter fehlen - ist längst überschritten, als immer noch Bergsteiger auf dem Gipfelgrat hochsteigen. Auch die Bedrohung des verheerenden Gewittersturms bemerken die Menschen in der Todeszone zu spät. Der lange Abstieg wird neun Bergsteigern zum Verhängnis, durch Erschöpfung, Sauerstoffmangel und weil sich eine Gruppe im Sturm verirrt.

Das Erscheinen von Krakauers Artikel im Outsidemagazin 1996 und dann des Buchs im Jahr 1997 brachte eine weltweite Debatte über die Folgen des kommerziellen Everest-Tourismus in Gang. Vieles, was Krakauer rückblickend über die katastrophalen Ereignisse von 1996 schreibt, lässt sich auf die heutigen Zustände an den von Alpinisten belagerten Achttausendern übertragen.

Der vielleicht einfachste Weg, in Zukunft das Risiko einer ähnlichen Tragödie zu vermindern, wäre, Flaschensauerstoff zu verbieten und seinen Gebrauch auf den medizinischen Notfall zu beschränken. Ein paar leichtsinnige Seelen würden dann wohl weiterhin bei dem Versuch sterben, den Gipfel ohne zusätzlichen Sauerstoff zu erreichen. Der größte Teil der weniger erfahrenen Bergsteiger wäre jedoch durch die Grenzen der eigenen physischen Belastbarkeit dazu gezwungen umzukehren.

Die dünne Luft macht den Unterschied. Auch ein erfahrener Alpinist wie Krakauer würde bei einem Verbot von Flaschensauerstoff nicht auf den Everest steigen können.

Fazit

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für die ganz hohen Berge und Extrembergsteigen interessieren. Jon Krakauer ist damit nicht nur ein beeindruckender Bericht im Stil des investigativen Journalismus gelungen, er ist auch ein begnadeter Erzähler, der die verschlungenen Stränge der Ereignisse, Biografisches und Geschichtliches mit einem sicheren Gespür für Dramaturgie miteinander verwebt.

In der Buchmitte sind einfarbige Hochglanzfotos der Expedition eingefügt. Weitere Fotos von Teamkollegen und vom Aufstieg am Unglückstag sind im Prolog abgedruckt. Sehr hilfreich für die Orientierung ist der einseitige Fotoabdruck der oberen Hänge des Everest mit der eingezeichneten Standardroute.

Titel: In eisige Höhen

  • Autor: Jon Krakauer

  • Verlag: Piper

  • Erscheinungsjahr: 23. Auflage 2020 (amerikanische Originalausgabe 1997)

  • Umfang: 400 Seiten, Broschur

  • Preis: 12 Euro


Reinhold Messner. Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will

Reinhold Messner polarisiert. Entweder man findet ihn wegen seiner bergsteigerischen Leistung großartig oder man lehnt ihn ab, weil man ihn als überheblich oder zu sehr auf Selbstdarstellung bedacht empfindet. Ob man Reinhold Messner nun mag oder nicht, er ist einer der bedeutendsten Bergsteiger und hat weit über seine aktive Zeit als Extrembergsteiger hinaus den Alpinismus geprägt wie kein anderer. Ich war im Teenageralter, als Reinhold Messner ohne zusätzlichen Sauerstoff den Everest bestiegen hat. Eine Sensation.

Reinhold Messner hat nicht nur unzählige Gipfel bestiegen, eisige und heiße Wüsten durchquert und mehrere Filme gedreht, er ist auch ein sehr produktiver Buchautor. Mehr als 70 Bücher hat er meist als Alleinautor herausgebracht. Der Titel Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will ist ein Zitat aus dem Hölderlin-Gedicht “Lebenslauf”, das im Buch als eine Art Prolog abgedruckt ist.

Reinhold Meßner wurde 1944 in einem Südtiroler Bergdorf im Schatten der Geislerspitzen als eines von neun Geschwistern geboren. Mit fünf Jahren klettert er zusammen mit seinem Vater auf seinen ersten Dreitausender. Die Kletterleidenschaft teilt er mit seinem Bruder Günther. Die beiden werden zu einer erfolgreichen Seilschaft in den Alpen und später im Himalaya bis zum tragischen Tod von Günther Messner 1970 am Nanga Parbat.

In seiner Studentenzeit macht Messner in den Dolomiten und in den Westalpen Erstbegehungen “am laufenden Band”, darunter die direkte Ortler-Nordwand, der Walkerpfeiler der Grandes Jorasses und die direkte Civetta-Wand. Lesend folgt man Reinhold Messner all die Wände rauf und runter. Nebenbei erfährt man Einiges aus der Praxis von Topkletterer, zum Beispiel dass sie für die Routenplanung die Linie auf ein Foto der Wand einzeichnen oder wie sie sich bei einem ungeplanten Biwak vor dem Erfrieren schützen. Messner klettert von Erfolg zu Erfolg und kann mit Mitte zwanzig schon auf “tausend unfallfreie Klettertouren” zurückblicken. Er stapelt nicht tief, sondern macht deutlich, dass er meist besser als die Konkurrenz ist. Warum Messner ein Ausnahmebergsteiger wurde? Weil Bergsteigen das ist, was er am besten kann, und weil er sich in extremen Situationen auf seinen Überlebensinstinkt verlassen kann. Außerdem hatte er unfassbar viel Glück.

Karl Herrligkoffer lädt Messner zu einer Expedition ein, die 1970 zum Nanga Parbat geht. Messner reizt an dem Projekt die 5.000 Meter hohe Rupal-Wand, die fast dreimal so hoch ist wie die Eiger-Nordwand und von Hermann Buhl, dem Erstbesteiger des Nanga Parbat, als “unbesteigbar” eingestuft worden war. Auch Reinhold Messners Bruder Günther gehört zum Expeditionsteam. Nachdem die Brüder den Gipfel erreicht haben, werden sie beim Abstieg bei extremen Minustemperaturen ohne Ausrüstung zu einem Biwak im Freien gezwungen. Beide sind in einem schlechten Zustand. Da sie kein Seil haben, steigen sie am nächsten Tag über die leichtere Diamir-Wand ins Tal ab und verlieren sich dabei aus den Augen. Nach einer einwöchigen Odyssee erreicht Reinhold Messner mit erfrorenen Zehen das Basislager. Sein Bruder Günther bleibt am Nanga Parbat verschollen, vermutlich wurde er von einer Lawine verschüttet. Nach der Expedition entbrennt eine mediale Schlammschlacht zwischen Messner und anderen Teilnehmern über den genauen Ablauf der Ereignisse, die bis heute anhält. Ich persönlich finde die Schilderung Reinhold Messner im Buch plausibel, zumal er fast selbst umgekommen wäre. Sicher ist, dass die Brüder bei der Durchsteigung der Rupal-Wand und beim fatalen Abstieg ins Diamir-Tal zu viele Grenzen überschritten haben.

Zur Berglegende wurde Reinhold Messner, weil er in den 1970er und 1980er Jahren ständig Grenzen, die als unüberwindbar galten, versetzt hat. Everest ohne Sauerstoff, Solobesteigung von Achttausendern, alle Achttausender, alle Seven Summits - das galt alles als menschenunmöglich, bis Messner es gemacht hat. Allein wegen Messners laufender Tabubrüche in den Bergen überall auf der Welt lohnt es sich, das Buch zu lesen. “Ein letztes Tabu” lautet dann auch die Überschrift des Kapitels, das die Besteigung des Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff beschreibt. Das war 1978 zusammen mit Peter Habeler. Natürlich läuft dieses Unternehmen mehrmals fast aus dem Ruder, aber letztlich gelingt es. Ein Orkan zwingt die Gipfelmannschaft beim ersten Versuch auf dem Südsattel nach 50 Stunden zum Umkehren. Der zweite Versuch ist dann erfolgreich, halb kriechend, halb robbend erreichen Messner und Habeler den Gipfel. Beim Filmen mit einer Super-8-Kamera ohne Schneebrille holt sich Messner eine Schneeblindheit und schafft nur mit Mühe und Not den Abstieg ins Basislager. Und dann? Kaum im Basislager angekommen, ist der Everest “by fair means” abgehakt und Messner in Gedanken schon beim nächsten Projekt.

Als ich im Basislager ankam, hatte ich das Gefühl, daß mir etwas fehlte. Dort, wo früher die Utopie vom Everest ohne Maske gesessen hatte, war jetzt ein Loch. Zum Glück hatte ich noch eine Idee: ein Mensch und ein Achttausender. Ich beschäftigte mich jetzt mehr und mehr mit dem Ziel, den Nanga Parbat im Alleingang zu bewältigen. Meine Seele war zu diesem neuen Traum unterwegs.

Von Traum zu Traum, von Tabu zu Tabu - darunter die Alleinbegehung des Nanga Parbat und des Everest - geht es weiter, bis Messner 1986 mit dem Lhotse den letzten Achttausender auf seiner Liste abhaken kann. Damit stand er als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern. Bereits ein Jahr zuvor, nach dem Tod seines Bruders Siegfried, der in den Dolomiten vom Blitz getroffen wurde, hatte Messner seiner Mutter versprochen, auf keine hohen Gipfel mehr zu steigen. Er hält sich an das Versprechen, was ihm nicht schwerfällt, weil er “diese kleine Welt der höchsten Berge inzwischen zu gut kannte”.

Danach beginnt Messners Leben in der Horizontalen. Er durchquert Grönland, die Antarktis, Wüsten und Hochflächen. Schon im Jahr 1983 hatte Messner die Burg Juval im Vinschgau in der Nähe von Meran gekauft und renoviert - das erste Museum von insgesamt sechs Messner Mountain Museen, die Messner seither in Südtirol als “Erlebnismuseen” zum Thema Berg ins Leben gerufen hat. Reinhold Messner ist weiterhin aktiv und als “Storyteller unterwegs”, und Geschichten erzählen kann er wirklich gut.

Fazit

Der Untertitel “Ein Bergsteigerleben” ist wörtlich zu nehmen. Reinhold Messner berichtet in 63 Kapiteln chronologisch von seinem Werdegang vom Bauernbuben aus dem Vilnößtal zum überragenden Bergsteiger der 1970er und 1980er Jahre, zum erfolgreichen Bergevent-Veranstalter, Autor und Museumsgründer. Messner schreibt, wie er spricht. Das Buch hört sich richtig nach Messner an, man kennt ja seine Art zu erzählen aus dem Fernsehen. Wie in vielen anderen Bergsteigerbiografien auch sind die Details mancher frühen Touren manchmal etwas ermüdend. Messner schreibt aber so spannend, gibt so viele Einblicke in die Praxis des Kletterns und Höhenbergsteigens und hat das Buch so geschickt mit Fotomaterial bestückt, dass ich dieses Stück Alpingeschichte mit großem Genuss gelesen habe.

Titel: Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will

  • Autor: Reinhold Messner

  • Verlag: Malik

  • Erscheinungsjahr: 4. Auflage 2021 (1. Auflage 2012)

  • Umfang: 416 Seiten, Klappenbroschur

  • Preis: 20 Euro


 Ana Zirner. Alpensolo

In 60 Tagen von Ost nach West über den Alpenhauptkamm. Knapp 2.000 Kilometer, allein, nur mit dem Nötigsten in einem 35-Liter-Rucksack. Dieses Abenteuer beschreibt Ana Zirner in ihrem Erstlingsbuch Alpensolo.

Ana Zirner ist Jahrgang 1983, in den bayerischen Voralpen aufgewachsen und arbeitet als freiberufliche Autorin, Bergsportlerin und Bergwanderführerin. In Alpensolo lernt man sie als eine starke Persönlichkeit kennen, die ihren Traum des Alpencross minutiös geplant und mit viel Wiellenskraft umgesetzt hat. Schritt für Schritt bewältigt sie die fast 2.000 Kilometer lange Route von den Julischen Alpen in Slowenien, durch die Dolomiten, über die Ortlergruppe, durch Graubünden, das Tessin und Wallis und über den Hauptkamm der französischen Alpen bis nach Grenoble. Auf der Landkarte zieht die Route ein astreinen Bogen über die Alpenkette. Die Etappen sind oft hochalpin auf abgelegenen Wegen, über hohe Pässe und Klettersteige. Nach einem langen Wandertag stehen häufig noch 1.000 Tiefenmeter und mehr auf dem Programm.

Ana Zirner übernachtet fast immer im Freien, ohne Zelt, nur im Schlafsack und mit einem Biwaksack, falls das Wetter schlecht ist. Nur selten sucht sie Unterschlupf in einer Hütte. Je weiter sie auf ihrer Wanderung kommt, desto weniger hält sie es mit den Bergtouristen aus, mit denen man in einer Hütte zwangsläufig zusammentrifft.

Das Buch ist eine gelungene Mischung aus Bergabenteuer, meditativem Naturerleben und Selbstreflexion. Ana Zirner scheut keinen Klettersteig, steigt mit einem Bergführer auf den Gipfel des Ortlers, rollt abends ihren Schlafsack an einem Bergsee aus, macht zum Start in den Tag Yogaübungen, beschreibt mitreißend ihre Naturerlebnisse, freut sich über Begegnungen mit “Bergmenschen”, reflektiert über sich und gibt nebenbei in jedem Kapitel noch praktische Verhaltenstipps für Langstreckenwanderer.

Im zeitlosen Gehen findet sie den Raum, um über ihre Arbeit als freiberufliche Regisseurin nachzudenken. In diesem Beruf hatte sie die Jahre zuvor sehr erfolgreich im In- und Ausland gearbeitet. Sehr offen beschreibt sie, wie wenig Wertschätzung und wie wenig Geld sie dafür bekommen hat. Überhaupt zeichnet sich ihre Art zu schreiben durch große Authentizität aus. Das betrifft nicht nur die Reflexionen zu Themen wie Rhythmus, Bescheidenheit oder Aufrichtigkeit, die sich jeweils wie ein Kontrapunkt durch die einzelnen Etappen ziehen, sondern auch die Begegnungen mit anderen Menschen, die sie manchmal als beglückend oder angenehm, aber manchmal auch sehr deutlich als nervig beschreibt.

Immer wieder muss sie von ihrem ursprünglichen Plan abweichen. In Kärnten wird sie bei übelstem Wetter auf der Suche nach einer Unterkunft kalt abgewiesen, wird dann aber doch noch beim Biwak im Freien von einem Jäger vor einem drohenden Erdrutsch bewahrt. Ein früher Wintereinbruch in der Schweiz führt fast dazu, dass sie die Alpenüberquerung abbrechen muss.

Abgesehen von den Bergabenteuern hat mich in diesem Buch vor allem berührt, wie Ana Zirner ihre Naturerlebnisse beschreibt. Sie setzt das Erlebte so gekonnt in Szene, dass man mit allen Sinnen mit dabei ist.

Kaum bin ich eingeschlafen, höre ich ein Donnern. Ungläubig schaue ich in den sternenklaren Himmel. Aber das Donnern wird immer deutlicher, außerdem kommt es näher. Der Boden vibriert, und schließlich höre ich ein wildes Schnauben. Aufrecht im Schlafsack sitzend, bietet sich mir ein unglaubliches Bild: Ausgelassen rennen sieben Pferde über die Wiese oberhalb von mir - und sie stürmen direkt auf mich zu. Ihr rasantes Tempo steht in krassem Gegensatz zu meiner schlaftrunkenen Ungläubigkeit. Ich springe auf, damit sie mich “sehen” können, und klettere auf den Felsbrocken neben mir. Da galoppieren sie schon ringsum an mir vorbei. Gebannt schaue ich ihnen hinterher und bewundere, wie sie in majestätischer Schönheit den Hang hinabtoben. Wild auseinanderstiebend, wechseln sie plötzlich Rhythmus und Richtung, und im Schein der Sterne sehen sie dabei aus wie glückliche freie Geister.

Fazit

Alpensolo ist ein Road Movie quer über die Alpen, das einen dazu inspiriert, sich selbst auf Wanderschaft zu begeben. Am Anfang wirkt der sehr direkte persönliche Stil von Ana Zirner gelegentlich etwas befremdlich. Aber Sie beschreibt ihren Weg und ihre Gefühle so authentisch, dass man dann doch gern den ganzen Weg mit ihr zusammengeht und am Abend jedes Tages, den sie beschrieben hat, unbedingt wissen will, wie es weitergeht. Einfühlsam und mit sicherem Sinn für Bilder beschreibt sie, wie ihr die Natur in der teils völlig abgeschiedenen Bergwelt begegnet. Das ist wunderbares Naturkino.

Etwas dürftig ist der vierfarbige Buchtafelteil in der Buchmitte. Angesichts der fantastischen Berglandschaften, durch die die Wanderroute von Ana Zirner führt, hätte ich mehr Fotos erwartet. Ersatzweise habe ich manche Gipfel, Hütten und Orte gegoogelt. Vielleicht kommt ja in einer Folgeauflage noch Bildmaterial dazu.

Titel: Alpensolo

  • Autorin: Ana Zirner

  • Verlag: Malik

  • Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2020

  • Umfang: 271 Seiten, Hardcover

  • Preis: 18 Euro