Hans Kammerlander. Bergsüchtig
Hans Kammerlander kann nicht nur extrem gut bergsteigen, sondern auch sehr spannend erzählen. Zusammen mit dem Journalisten und Bergsteiger Walther Lücker hat er mehrere Bücher herausgebracht. Bergsüchtig ist das bekannteste Werk.
Viele Bücher berühmter Alpinisten haben ein ähnliches Drehbuch: Kindheit und Jugend in einem Bergdorf, Klettern und Hochtouren in den Ostalpen, dann in den Dolomiten und in den Westalpen und schließlich im Himalaya. Das ist auch in Bergsüchtig so. Hans Kammerlander, Jahrgang 1956, wächst in einfachsten Verhältnissen in einem Südtiroler Bergdorf auf. Im Alter von acht Jahren steht er auf seinem ersten Gipfel, dem Großen Moosstock (3.059 m), seinem Hausberg. Mit seinem ersten, auf dem Bau verdienten Geld kauft er sich ein altes Motorrad, mit dem er unzählige Bergfahrten in die Dolomiten unternimmt. Mit 21 Jahren legt er die Prüfung zum Bergführer ab. Ende der 1970er Jahre lernt er den zwölf Jahre älteren Reinhold Messner kennen, der ihn für seine Alpinschule im Vilnößtal rekrutiert.
1982 lädt Messner Kammerlander zu seiner Cho-Oyu-Expedition in den Himalaya ein. Aus Messner und Kammerlander wird eines der außergewöhnlichsten Extrembergsteigerteams in der Geschichte des Alpinismus. In den Jahren zwischen 1982 und 1986 besteigen Messner und Kammerlander gemeinsam sieben Achttausender: Cho Oyu, Hidden Peak, Gasherbrum II, Annapurna, Dhaulagiri, Makalu und Lhotse. Mit dem Lhotse hatte Messner den 14. Achttausender auf seiner Liste abgehakt. Auf dem Gipfel des Lhotse trennen sich die Wege von Messner und Kammerlander. Kammerlander ist ein ausgezeichneter Skifahrer und findet bald seine eigene Nische im Höhenbergsteigen: Mit den Skiern von den höchsten Bergen abfahren. Das glückt ihm erstmals 1990 am Nanga Parbat.
Das Buch ist durchgehend sehr spannend zu lesen. Die Lebensgeschichte, die Kammerlander erzählt, hat zwei herausragende Höhepunkte, die katastrophale Expedition zum Manaslu 1991 und die Solobesteigung des Mount Everest mit anschließender Skiabfahrt vom Gipfel 1996.
1991 organisiert er mit jungen Südtiroler Bergsteigern eine Expedition zum Manaslu (8.163 m), bei der seine Bergsteigerkollegen und Freunde Carlo Großrubatscher und Friedl Mutschlechner ums Leben kommen. Kammerlander schildert den Ablauf der Geschehnisse offen, schonungslos und selbstkritisch. Friedl Mutschlechner hatte sich eigentlich schon vom Höhenbergsteigen zurückgezogen, aber dem Drängen seines Freundes, mit auf die Expedition zu kommen, schließlich nachgegeben. Carlo Großrubatscher bricht sich beim Sturz von einem Sérac das Genick. Am selben Tag wird Friedl Mutschlechner beim Abstieg in einem heftigen Gewittersturm tödlich vom Blitz getroffen. Besonders an die Nieren gingen mir beim Lesen dieser tragischen Geschichte die Fotos, die Kammerlander in der Sturmnacht von Mutschlechner kurz vor dessen Tod und danach von sich selbst im rettenden Zelt gemacht hat. Sie sagen viel darüber aus, wie weit Extrembergsteiger bereit sind zu gehen, und dass der Tod tatsächlich ihr ständiger Begleiter ist.
Nach einer erfolglosen Expedition zum Everest setzt Kammerlander schließlich 1996 seinen lang gehegten Plan um: Von Tibet aus über die Nordwand auf den Gipfel des Everest und mit den Skiern abfahren. Und zwar nonstop ohne Hochlager und praktisch ohne Ausrüstung, außer einer Thermoskanne mit Tee, ein paar Steigeisen und einem winzigen Funkgerät, die Ski mit einem Karabiner am Klettergurt befestigt. Die Kapitel über den nächtlichen Aufstieg auf den Everest und die Skiabfahrt sind packend geschrieben. Kammerlander entführt einen in eine völlig lebensfremde Welt voller Einsamkeit, in die man ihn staunend, gruselnd und mitfiebernd begleitet.
Eine Stunde lang rastete ich im Zelt [des Kamerateams auf 7.000 m]. Ich trank erneut viel Tee, füllte meine Flasche auf, aß ein Stück Schokolade und ging hinaus in die Dunkelheit. Ich war noch nicht weit vom Zelt entfernt, da packte mich bereits die Einsamkeit. Um mich herum war es dunkel wie in einem Sack, und ich hätte alles für eine helle Vollmondnacht gegeben. Die wenigen Sterne konnten die Hänge des Everest nicht erhellen. Vor mir bohrte sich der Schein meiner Stirnlampe in die Dunkelheit. Sie wurde von zwei sehr leichten, aber leistungsstarken Lithium-Batterien gespeist, und doch reichte die Leuchtkraft nicht viel weiter als sechs, acht Meter.
Am Vormittag erreicht er nach fast 17 Stunden Aufstieg den Gipfel. Das mit Selbstauslöser geschossene Gipfelfoto, auf dem er seine Ski in einen Himmel streckt, der schwarzblau wie das Weltall ist, kennt wahrscheinlich jeder, der sich für Höhenbergsteigen interessiert. Was mir aber beim Lesen wirklich den Atem hat stocken lassen, ist das Foto der talwärts nach Tibet ausgerichteten Skispitzen, im Moment bevor Kammerlander den ersten Schwung bzw. Sprung in die Tiefe macht. Die folgende Skiabfahrt ist aberwitzig und unglaublich, und am unglaublichsten ist, dass Kammerlander sie überlebt hat. Einige hundert Höhenmeter unter dem Gipfel endet die Fahrt zunächst an einer steilen Felsplatte, über die sich ein altes Fixseil spannt.
Ich schnallte die Ski ab, hängte sie mit dem Karabiner an den Klettergurt, packte das Plastikseil und begann die vereiste Platte zu queren. Ich kam nicht einmal vier Meter weit, dann rutschte ich mit dem rechten Fuß ab. Während ich seitlich wegkippte, belastete mein Gewicht ruckartig das Seil. Bruchteile von Sekunden lähmte mich die Angst, in den gähnenden Abgrund unter mir zu stürzen. Gleichzeitig brach am anderen Ende des Quergangs der als Verankerung für das Fixseil dienende Felshaken, ich verlor endgültig den Halt, fiel und pendelte zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.
Ich verrate nur so viel: Es kommt noch viel schlimmer. Aber Kammerlander übersteht die Abfahrt und kommt nach sieben Stunden - überwiegend auf Skiern - im Basislager an.
Fazit
Bergsüchtig ist die unglaublich spannend zu lesende Biografie einer Bergsteigerlegende. Hans Kammerlander vollbringt Wunder in der Kunst des Überlebens auf mehr als 2.000 oft extremen Hochtouren und überlebt dabei groteske Steinschläge, Lawinenabgänge und Schneestürme.
Das Buch überzeugt nicht nur durch die geschilederten Abenteuer, sondern auch durch die durchaus (selbst-)kritischen Betrachtungen des Autors über den Sinn und Nutzen des Extrembergsteigens, über den unwiderstehlichen Drang, “in lotrechten Wänden zu klettern oder in eisiger Kälte auf Achttausender zu steigen” oder über den Massenalpinismus im Himalaya. Wie nebenbei bekommt man außerdem eine große Portion Hintergrundwissen zu den bereisten Ländern dazu, vor allem zu Nepal, Pakistan und Tibet, über das alte Königreich Mustang und die Kultur der Sherpas. Eine Bereicherung sind die vielen farbigen und schwarz-weißen Fotos. Sie sind nicht wie sonst häufig als Tableau in der Buchmitte platziert, zu dem man immer wieder blättern müsste, sondern in der Reihenfolge der Ereignisse, sodass man beim Lesen Text und Fotos immer beisammen hat.
Titel: Bergsüchtig
Autor: Hans Kammerlander
Verlag: Malik
Erscheinungsjahr: 6. Auflage 2020 (1. Auflage 1999)
Umfang: 352 Seiten, Klappenbroschur
Preis: 18 Euro