Jon Krakauer. In eisige Höhen

In eisige Höhen ist ein Weltbestseller des amerikanischen Journalisten und Bergsteigers John Krakauer. Es ist eines der spannendsten Bücher, die ich seit Jahren gelesen habe. Beim Umblättern habe ich oft den Atem angehalten. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen. Es beschreibt das Drama, das sich im Mai 1996 am Mount Everest abspielte. Mehrere Expeditionen drängeln sich bei der Gipfelbesteigung in der Todeszone des Everest. In einem heftigen Schneesturm kommen neun Menschen ums Leben.

Im Original heißt das Buch Into Thin Air. Es ist eigentlich nicht nachvollziehbar, warum treffende englische Titel auf Biegen und Brechen ins Deutsche übersetzt werden müssen. Der englische Titel bringt es nämlich genau auf den Punkt: Wer sich in die extrem dünne Luft der Achttausendergipfel begibt, betritt die Todeszone, wo wegen des geringen Luftdrucks die Sauerstoffsättigung im Blut auf 50 Prozent sinkt. Die dünne Luft ist der Grund dafür, dass sich der Körper nicht mehr erholen kann, dass jeder Schritt unendlich mühsam ist, dass die Urteilskraft eintrübt und falsche Entscheidungen getroffen werden. Die meisten Alpinisten könnten ohne künstlichen Sauerstoff in diesen Höhen gar nicht überleben. Und auch der künstliche Sauerstoff stellt keine Normalbedingungen her, sondern federt nur die schlimmsten Folgen des Sauerstoffmangels (Erschöpfung, Höhenkrankheit, geistige Verwirrung, Schutz gegen lähmende Kälte) ab.

Krakauer soll im Auftrag des Outsidemagazins über die Folgen der ausufernden Kommerzialisierung des Alpinismus am Everest schreiben. Er ist einer von acht zahlenden Kunden der Expedition des neuseeländischen Bergführers Rob Hall. Vier der fünf Teamgefährten, die mit Krakauer am 10. Mai 1996 auf dem Gipfel des Everest stehen, sterben beim Abstieg in einem verheerenden Schneesturm. Zurück in den USA liefert Krakauer seinen Artikel bei Outside ab, aber die tragischen Ereignisse lassen ihn nicht in Ruhe. Der Outside-Artikel wird nach Krakauers Meinung der Tragödie nicht gerecht. Krakauer beginnt zu recherchieren, führt Interviews mit den wichtigsten Überlebenden und bringt 1997 Into Thin Air heraus, nur ein Jahr nach dem Unglück.

In der Tradition des investigativen Journalismus dokumentiert Krakauer minutiös den Ablauf der Ereignisse, dazu gehört auch, dass er zu Beginn alle Personen auflistet, die in das Drama verwickelt sind. Die Hauptpersonen wie zum Beispiel die Bergführer Rob Hall und Scott Fisher oder einzelne Bergsteiger und Sherpas, mit denen sich Krakauer anfreundet, erhalten im Buch einen biografischen Hintergrund. Man erfährt, welche Ereignisse in ihrem Leben dazu geführt haben, dass sie im Mai 1996 den Gipfel des Everest besteigen wollten. Dadurch werden sie beim Lesen zu guten Bekannten. Die biografische Zeichnung der Personen ist natürlich nicht hundertprozentig objektiv, sondern von Krakauer kunstvoll in die Dramaturgie eingeflochten. Aber gerade deshalb ist das Buch so immens spannend.

Auch die verschiedenen Expeditionsteams, die zur gleichen Zeit wie Krakauers Gruppe auf den Gipfel des Everest wollen, werden charakterisiert. Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Zu viele Bergsteiger wollen zur gleichen Zeit auf den Gipfel. Viele von ihnen sind unverfahren und technisch nicht gut genut für diese Höhen. Diese Defizite werden durch die Kommerzialität der Expeditionen kaschiert: Wer genug bezahlt, ist dabei. 65.000 Dollar kostete beispielsweise ein Platz im Expeditionsteam von Rob Hall, ohne Flug und Ausrüstung.

Mit Angaben zu seiner Person beschränkt sich Krakauer auf das Nötigste. In einem Absatz erwähnt er, dass er schon diesen und jenen prominenten Berg erstiegen (darunter der Cerro Torre) und wohl auch Erstbegehungen gemacht habe. Recherchiert man den Bergsteiger Krakauer, erfährt man, dass er ein exzellenter und erfahrener Bergsteiger und versiert in Alpingeschichte ist. Immer wieder macht Krakauer Streifzüge in die Geschichte des Alpinismus, zum Beispiel in die 1970er Jahre zu Reinhold Messner und seiner Art, Achttausender ganz ohne künstlichen Sauerstoff zu besteigen, oder noch weiter zurück zur ersten britischen Everest-Expedition von Goerge Mallory, der 1924 am Everest verschollen ist.

Krakauer beschreibt die unmenschliche Quälerei am Everest in einer völlig lebensfeindlichen Umgebung, ohne irgendetwas zu beschönigen. Man sollte also meinen, dass das Buch Leser*innen von diesem Berg fernhält. Wenn man sich die langen Staus von Bergsteigern in jedem Frühling am Everest ansieht, ist klar, dass eher das Gegenteil der Fall ist. “Das prickelnde Gefühl, das Geheimnis des Todes zu streifen, einen verstohlenen Blick über die verbotene Grenze zu werfen”, macht wahrscheinlich einen großen Teil der Faszination des Höhenbergsteigens und der Bücher darüber aus.

Am 9. Mai erreicht das Team von Krakauer Camp vier auf dem Südsattel in 8.000 Metern Höhe. Von Kälte und orkanartigem Wind geplagt, lagern in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai mehr als 50 Menschen auf dem Südsattel in der Todeszone.

Alles in allem brachen um Mitternacht dreiunddreißig Bergsteiger Richtung Gipfel auf. Obwohl wir den Sattel als Mitglieder dreier verschiedener Expeditionen verließen, hatten unsere Schicksalsfäden bereits begonnen, sich miteinander zu verweben - und mit jedem weiteren Meter, den wir nach oben stiegen, zurrten sie sich fester zusammen.

Kleinere Vorfälle laufen unbemerkt, aber stetig zu einer kritischen Masse auf. Die vereinbarte Umkehrzeit um 14 Uhr - wer bis dahin den Gipfel nicht erreicht hat, muss umkehren, auch wenn nur noch wenige Höhenmeter fehlen - ist längst überschritten, als immer noch Bergsteiger auf dem Gipfelgrat hochsteigen. Auch die Bedrohung des verheerenden Gewittersturms bemerken die Menschen in der Todeszone zu spät. Der lange Abstieg wird neun Bergsteigern zum Verhängnis, durch Erschöpfung, Sauerstoffmangel und weil sich eine Gruppe im Sturm verirrt.

Das Erscheinen von Krakauers Artikel im Outsidemagazin 1996 und dann des Buchs im Jahr 1997 brachte eine weltweite Debatte über die Folgen des kommerziellen Everest-Tourismus in Gang. Vieles, was Krakauer rückblickend über die katastrophalen Ereignisse von 1996 schreibt, lässt sich auf die heutigen Zustände an den von Alpinisten belagerten Achttausendern übertragen.

Der vielleicht einfachste Weg, in Zukunft das Risiko einer ähnlichen Tragödie zu vermindern, wäre, Flaschensauerstoff zu verbieten und seinen Gebrauch auf den medizinischen Notfall zu beschränken. Ein paar leichtsinnige Seelen würden dann wohl weiterhin bei dem Versuch sterben, den Gipfel ohne zusätzlichen Sauerstoff zu erreichen. Der größte Teil der weniger erfahrenen Bergsteiger wäre jedoch durch die Grenzen der eigenen physischen Belastbarkeit dazu gezwungen umzukehren.

Die dünne Luft macht den Unterschied. Auch ein erfahrener Alpinist wie Krakauer würde bei einem Verbot von Flaschensauerstoff nicht auf den Everest steigen können.

Fazit

Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für die ganz hohen Berge und Extrembergsteigen interessieren. Jon Krakauer ist damit nicht nur ein beeindruckender Bericht im Stil des investigativen Journalismus gelungen, er ist auch ein begnadeter Erzähler, der die verschlungenen Stränge der Ereignisse, Biografisches und Geschichtliches mit einem sicheren Gespür für Dramaturgie miteinander verwebt.

In der Buchmitte sind einfarbige Hochglanzfotos der Expedition eingefügt. Weitere Fotos von Teamkollegen und vom Aufstieg am Unglückstag sind im Prolog abgedruckt. Sehr hilfreich für die Orientierung ist der einseitige Fotoabdruck der oberen Hänge des Everest mit der eingezeichneten Standardroute.

Titel: In eisige Höhen

  • Autor: Jon Krakauer

  • Verlag: Piper

  • Erscheinungsjahr: 23. Auflage 2020 (amerikanische Originalausgabe 1997)

  • Umfang: 400 Seiten, Broschur

  • Preis: 12 Euro